Kolozsvár (Klausenburg), Budapest und Wien - Stationen eines bewegten Lebens und Schaffens: Lebenslauf Éva Nagys

In der Österreichischen Nationalbibliothek (Nachlassenschaft Aladár Kovách, 47) befindet sich ein handgeschriebener Brief meiner Mutter vom Januar 1960, in dem sie ihren bewegten Lebenslauf bis zu jenem Datum beschreibt. Es ist ein Leben, das in der Periode 1940 bis 1957 eine Wirrnis von Emigration, Fluchten,illegalen Grenzübertritten und Auswanderung war.

Es ist eine Lebensperiode, geprägt von den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, den politischen und kriegerischen Wirren des Zweiten Weltkriegs,der Flucht und späterer Emigration aus Siebenbürgen nach dem Rumpfungarn, der ungarischen Revolution vom Oktober 1956,eines missglückten Fluchtversuchs und,  später, einer geglückten Flucht nach Österreich im Januar 1957, wo sie bis zu ihrem Tode in 2003 in Wien gelebt hat.
Es ist eine Geschichte von der verlorenen Heimat.

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Sehr geehrter Herr Aladár Kovács!

Hilfsbedürftige Menschen sind vielleicht noch empfindlicher als andere und können sich über die kleinsten Dinge freuen. Es ist die größte Freude im Leben, wenn man einem eine kleine Gefälligkeit tun, sozusagen liebenswürdig sein kann.

Ich brachte meinen Neujahrsgruß mit pochendem Herzen zur Post, denn ich konnte nicht wissen, ob Sie sich noch an mich erinnern, und ob Sie sich darüber freuen würden. Das war freilich meinerseits keine Liebenswürdigkeit, sondern vielmehr Eigennützigkeit, denn ich wollte, daß Sie sich an mich erinnern. Ich wollte Ihnen mitteilen, daß ich mein Versprechen, das ich Ihnen einmal unterwegs in die Innenstadt im Auto gemacht hatte, daß ich arbeiten wollte, und daß noch die Zeit kommen würde, als ich nachweisen könne, daß ich meinem Ziel trotz aller Hindernisse und nachteiliger Umstände näher komme.

Beiliegend schicke ich Ihnen einen langen Lebenslauf, den ich als eine Klageschrift verfaßte, heulend, lauthals nach Hilfe rufend. Meine Nerven hielten nicht mehr durch, mein Gemüt schien aus dem Gleichgewicht zu kommen. Sie haben sicherlich Verständnis für derartige Gemütszustände. Was ich Sie bitten möchte: Verständigen Sie mich auf einer Postkarte, wann und wo wir uns treffen können. Ich möchte Ihnen meine Bilder und Grafiken zeigen, aber bei deren großem Format kann ich sie nicht mitnehmen.

Es würde mich freuen, wenn Sie mich besuchen würden, wenn es Ihnen keine Schwierigkeit bedeutet. So könnten Sie auch meine Lebensumstände kennenlernen und verstehen, daß ich so nicht mehr weiter leben kann. Vielleicht ließe sich mit Ihrer Hilfe erreichen, daß ich, obwohl ich nicht im Lager wohne, eine Wohnung bekomme – ausnahmsweise, angesichts meiner Misere und meiner Krankheiten.

Mit vielen lieben Grüßen

Éva Nagy

Wien, 7. 1. 1960



Lebenslauf

Ich bin Éva Nagy, Malerin. Mein Vater war Direktor in der Siebenbürger Zentrale einer regionalen Kooperative, meine Mutter war Lehrerin. Ich bin ein Kind einfacher Leute, die jedoch hohe kulturelle und seelische Ansprüche hatten.

Ich wurde in Siebenbürgen, in Nagyenyed (Aiud) am 14. November 1921 geboren. Ich absolvierte meine Schulen zu einer Zeit der Unterdrückung der Minoritäten, wo ich vom ersten Tag an lernen mußte, was Demut, was die Verbeugung vor der herrschenden Schicht heißen. Ich denke in Dankbarkeit an das kleine rumänische Gymnasium, wo ich angespuckt wurde, weil ich als Ungarin zur Minorität gehörte und somit als Feind galt. Ich bin dankbar dafür, denn dadurch lernte ich Ausdauer, Glauben fürs Leben und Durchsetzungsvermögen in der größten Misere (oft mit heftigem innerem Aufruhr). Ich war oft empört, und doch voller Verständnis für meine Mitmenschen, und ich wollte jeden Groschen mit den Bedürftigen teilen. So geschult begann ich etwa vor 20 Jahren mein Erwachsenenleben.

Dann kam der Wiener Schiedsspruch. Viele erinnern sich nicht mehr daran, aber Menschen, die sich mit Politik befassen, erinnern sich. Als wäre ich immer im Mittelpunkt der Politik gestanden, jede Entscheidung brachte eine Verschlechterung in mein Leben. Im Sinne des Wiener Schiedsspruchs wurde die Grenze unterhalb von Klausenburg gezogen, Nagyenyed blieb rumänisch. Ich war damals mit einem Lehrer des Bethlen-Kollegs verlobt, der nach dem Wiener Schiedsspruch nach Klausenbrg zu seinen Eltern zog und dort am Gymnasium und an der Handelsschule Anstellung fand. Ich blieb in Südsiebenbürgen bei meinen Eltern in Rumänien. Drei Jahre lang war ich von meinem Verlobten durch eine Landesgrenze getrennt. Meine Nerven begannen daran zu leiden. Ich war drei Jahre lang völlig ausgeliefert und fühlte mich von der Zeit aufgerieben. Ich war bei meinen Eltern, alle meine Versuche scheiterten. Schließlich gelang es mir 1943, bei Bánffyhunyad bzw. Jákótelek die Grenze zu übertreten, so daß wir nach drei Jahren heiraten konnten. In dieser Ehe wurde uns ein Sohn namens Szabolcs geboren, der gegenwärtig im Florisdorfer Studentenheim lebt und zur Schule geht.

Bei der Geburt meines Sohnes wurde Bánffyhunyad aufgegeben, die Bahnstation gesprengt, kein Arzt war in der Nähe zu erreichen, eine alte Frau stand mir bei. Mein Mann konnte als Kompaniekommandant das Kommandobüro nicht verlassen. Nach einigen Tagen wurden die noch Verbliebenen auf Büffelkarren gepackt und auf den Weg geschickt. Auf der Landstraße zogen Menschen, Soldaten, Reiter, Leute in Bauernwagen und in Autos, eine wahre Völkerwanderung. Ich wurde dadurch arg mitgenommen: Salvenfeuer aus Maschinengewehren, Flucht in den Straßengraben vor dem Salvenfeuer, Angst vor den Bombern mit einem Neugeborenen, im September – bereits ohne meinen Mann, der von den Russen gefangengenommen wurde. Wir sahen uns erst acht Jahre später wieder. Meine ganze Ausstattung und meine Möbel, die ich von meinen Eltern bekommen hatte, gingen dabei verloren. Dann ging es in offenen Waggons weiter; der Zug fuhr, wohin es eben möglich war. Bis Ende Oktober waren wir im offenen Waggon, ich hielt über meinem Säugling einen Regenschirm aufgespannt, unter uns war alles naß, denn zwischen den Brettern, die gute Leute über uns zusammenbastelten, rann das Wasser durch.

Wir wurden in die Slowakei, dann nach Polen gefahren, man wollte uns nach Stettin bringen, aber die Mehrheit wollte nach Ungarn heimkehren. Ich weiß gar nicht, wie – ich war noch halb ein Kind – brachte man uns nach Wien zurück. Ich hatte nur eines im Sinn, mein Kind am Leben zu erhalten. Eines Nachts fand ich mich in Ungarn, beziehungsweise in Jugoslawien, in Muraszombat (Murska Sobota). Ich wurde vom Schicksal nur hin und hergetrieben. Aus Muraszombat wurde ich ausgesiedelt, mit einem Säugling auf dem Arm.

Damals, 1945, begann die Quälerei, nur nach Hause, nach Siebenbürgen. Es gab keinen Eisenbahnverkehr, zu Fuß, unter Mühen, bald obenauf auf den Bahnwaggons, bald im Güterzug bäuchlings, damit man uns nicht bemerkte – mit meinem Sohn von einigen Monaten, todmüde und abgequält, so kamen wir nach Budapest. Dort beantragte ich offiziell einen Paß, um zu meinen Eltern heimzukehren, aber unter den damaligen Verhältnissen war das nicht möglich. Von Station zu Station kämpfte ich mich, kaum über zwanzig, von Budapest bis zur rumänischen Grenze durch, völlig durchfroren, das Kleinkind an meinen Körper gebunden. Ein ungarischer Hauptmann half mir über die Grenze, von dort setzte ich meine Fahrt durch Rumänien fort, bis ich schließlich das Haus meines Vaters erreichte. Ein Frontsoldat hätte nicht mehr leiden können als ich in meinen jungen Jahren, mein Rücken wollte vor Müdigkeit und Verantwortungsgefühl für das Kind einbrechen. Wir verbrachten acht Jahre bei meinen Eltern, die zwei Leben gerettet haben: meines, und das meines Sohnes, um uns dann körperlich und seelisch geheilt auf dem Weg zu lassen.

Mein Mann kehrte, wenn ich mich recht erinnere, 1947 aus der Gefangenschaft nach Ungarn heim, nicht nach Siebenbürgen. Das war das erste Zeichen der Entfremdung, er tat nichts, um zu uns zu kommen, aber die Familie sollte zusammengeführt werden. Rumänien und Ungarn haben dies drei Jahre lang verhindert, die Grenze zwischen den beiden demokratischen Ländern war gesperrt. Schließlich wandte ich mich an Anna Pauker, so kam ich 1949 oder 1950, ich weiß nicht mehr, doch über die Grenze und nach Ungarn. So erschütternd auch das Wiedersehen mit meinem Mann war, wir mußten uns bald scheiden lassen. Ich fühlte mich beraubt, das jahrelange Warten war umsonst, meine jungen Jahre mußte ich als eine verlorene Zeit betrachten. Ich hatte nur die Hoffnung, mein Zeichentalent, das sich schon in meiner Kindheit manifestiert hatte, das ich aber in den letzten zehn Jahren vernachlässigte, wiederzubeleben.

Mit dreißig Jahren habe ich mich an der Kunsthochschule von Budapest immatrikuliert. Aus dem schmalen Stipendium – ich wurde als Kind von Eltern aus der „Intelligenzia“ benachteiligt – konnte ich mich und mein Kind nur mit größter Mühe unterhalten. 1949/50 waren wir kurz nach dem Jahr der Wende, Sie wissen, wie viele Schwierigkeiten das brachte, alle meine künstlerischen Sehnsüchte wurden im Keim erstickt. Wenn Sie aufmerksam lesen, was ich schreibe, können Sie bemerken, daß ich Zeit meines Lebens, noch als Dreißigerin, bis ich die Hochschule absolvierte, immer unterdrückt lebte; ich wußte nicht, was Glücklichsein heißt, weder als Frau noch als befreite Seele. Ich quälte mich durch die Jahre, ständig überfordert, an „Leichtsinn“ konnte ich nie denken, denn ich hatte ein Kind. Ich habe diese Tretmühle durchgehalten und erwarb 1953 an der Budapester Hochschule für bildende Künste ein Diplom mit Auszeichnung. Nachdem ich unsere Lage völlig aussichtslos fand, habe ich ein zweites Mal geheiratet, ich wählte eine „junge Kraft“, die mir aus meiner gescheiterten Lage helfen würde. Es ist uns nicht gelungen. Obwohl ich glaube, daß ich mit meiner Vergangenheit, die mich abgehärtet hatte, womöglich auch moralisch über dem Durchschnitt stand. Von diesem Mann, der in die Schweiz flüchtete, wurde ich vor kurzem gerichtlich geschieden. Er war zehn Jahre jünger als ich.

Von der Revolution will ich nicht viel sagen, sie ist Ihnen zur genüge bekannt. Ich muß nur erwähnen, daß wir unbedingt von Ungarn wegkommen mußten. Unser Leben wurde unmöglich gemacht, meine künstlerischen Bestrebungen wurden erstickt, meine Freiheit war dahin. Wir verließen unser ungeheiztes Zimmer am 20. Januar 1957. Wir kamen nach Österreich herüber und hofften auf die Hilfe des Roten Kreuzes. Ich wohnte zwei Jahre lang in Lagern, bis ich im Interesse meiner Arbeit ein Zimmer für 150 Schillinge mietete. Seitdem tue ich meine Arbeit an der Kunstakademie, Schillerplatz Nr. 3, wie dies durch die beigelegten Dokumente bewiesen wird. Empfehlungsschreiben von Professor Gütersloh, Silbermedaille, Diplome der Anerekennung und Zeitungsartikel.

Meine Umstände haben sich aber nicht gebessert. Die vielen Schwierigkeiten haben meine Nerven angegriffen, auch mein Herzleiden hat sich verschlechtert. Ich wohne im XXIII. Bezirk, mein Zimmer ist so klein, daß meine an die Wand gelehnten Bilder kaum mehr einen Durchlaß zwischen dem Bett und der Wand gewähren. Oben, auf meinem Schrank häufen sich meine Grafiken, unten im Schrank liegen ¾ Meter hoch aufgestapelt meine schönsten Bücher, die ich im Lauf der Zeit gekauft hatte. Das Fußende meines Bettes ist mein Kleiderschrank, dort halte ich meine saubere Wäsche zusammengebündelt, und da ich klein von Wuchs bin, kann ich ein Drittel meines Bettes mit Sachen bedecken, die ich über Nacht nicht anderswo unterbringen kann. Einmal die Woche schläft auch mein Sohn bei mir, so kauern wir zu zweit im einzigen, gekürzten Bett. Meine Lage ist schlechter als im Lager, aber ich brauchte dieses kleine Zimmer, um zu arbeiten.

Ich wohne in einem Haus, das wegen des anstößigen Benehmens mancher Einwohnerinnen unter ständiger Polizeiaufsicht steht. Man kann sich nach mir an der Atzgersdorfer Polizei erkundigen: Inzersdorf, Hungereck Str. 24/b. Ich kam dadurch hierher, daß ich das kleine Kind des Hauswirtsehepaares ankleidete und in die Schule begleitete, weil sie sehr früh zur Arbeit gingen. Neben meinem Zimmer ist eine Treppe, deren Knarren ich mir in der Nacht beim großen Verkehr mit anhörem muß, ich kann das mit meinen Nerven und meinem Herzleiden nicht mehr ertragen.

Ich muß behaupten, daß ich mich in meinem Leben sehr abquälen mußte. Aber ich habe die Hoffnung niemals aufgegeben, obwohl ich von Zeit zu Zeit sage, daß es nicht mehr weitergeht, daß man sterben, verrecken muß. Heute spüre ich jedoch, daß ich eine Mission erfülle, wofür es keine Entlohnung gibt. Und trotzdem bitte ich Sie, damit ich das Leben aushalten, in meinem Beruf fortkommen und schaffen kann, mir zu einer Wohnung zu verhelfen, ich bitte nicht mehr als die anderen.

Hochachtungsvoll

Éva Somogyi, geb. Nagy

György Sümegi: Éva Nagy, eine Flüchtlingsmalerin

Am 22. Februar 2003, an einem windigen kalten Spätwintertag durfte ich an der Tür der Josephstädter Wohnung von Éva Nagy (1921–2003) klingeln. Eine zierliche, vom Alter gebeugte Dame hat mich empfangen, in einer Wohnung, die mit ihren Arbeiten vollgestopft war. Bilder im Blindrahmen auf dem Vorzimmerschrank, auf dem Tisch, auf dem Bett, auf den Regalen, an die Wand und an die Regale gelehnt. Im kleineren Zimmer weitere Mengen von Arbeiten. Wir blättern in den Schichten der Werke auf dem Tisch: Studien aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, Aquarelle aus dem „Maulbeergarten“ genannten Park der Kunsthochschule von Budapest, Skizzen, Farben- und Formversuche. Aneinandergepreßte Figuren, Wirbel ohne Motive, die an die Welt Noldes und der Expressionisten denken lassen.

 – Ihre Zeichnungen, die 1957/58 in der Zeitschrift Nemzetőr erschienen sind, weisen enge Zusammenhänge mit den Vergeltungsmaßnahmen nach der Revolution von 1956 auf.
 – Ich wollte die niedergeschlagene Revolution, das Gefühl von Unterdrücktsein zum Ausdruck bringen. In dieser Hinsicht haben wir uns mit Aladár Kovách, dem Redakteur der Wiener Zeitschrift Nemzetőr gut verstanden. Er erbat von mir derartige Zeichnungen für seine Zeitschrift.
Die veröffentlichten Zeichnungen zeigen eingekerkerte Menschen, Revolutionäre im Sträflingsanzug aus der Zeit nach der Niederwerfung der Revolution, aus der Zeit der Vergeltung. Wo waren Sie zu jener Zeit? Wo schufen Sie diese Zeichnungen?
 – Ich war damals bereits hier in Wien und besuchte die Kunstakademie. Mit Aladár Kovách und durch ihn mit Nemzetőr blieb ich auch später im Kontakt.
Aus Ihrem Lebenslauf, den Sie 1960 für Aladár Kovách geschrieben haben, erinnere ich mich, daß Sie auch in Budapest die Kunsthochschule besucht hatten. Wir wollen nun genau festhalten, wann, unter welchen Umständen und mit welcher Motivation Sie nach Österreich, nach Wien kamen.
 – Nach der ungarischen Revolution, nach der niedergeschlagenen Revolution ging ich mit meinem Kind auf die Flucht. Zu Beginn, gleich nach meinem Eintreffen in Österreich, kam ich in ein Lager. Vorerst war das ein Traum: Als wir in der Nacht, bei eisiger Kälte mit durchnäßten Füßen ankamen, wurden wir von Autobussen des Roten Kreuzes erwartet und mit allem versorgt. Die erste Nacht verbrachten wir in einer Schule, wo Betten aufgestellt waren. Tags darauf wurden wir mit Bussen in die Stadt gefahren, das heißt in verschiedene Städte, ganz bis Sankt Pölten. Dort verbrachte ich den ganzen Winter. Wir bekamen Taschengeld, eine kleine Summe, die ich aber beiseitelegte, um nach Wien fahren zu können, ich wollte mich erkundigen. Ich erheilt eine Adresse, die ich aufsuchte, dort wurde ich für einige Tage aufgenommen. Ich ging an die Kunstakademie, wies mein Diplom von der Budapester Kunsthochschule vor, und  erkundigte mich, ob ich mich immatrikulieren lassen könnte bzw. bat darum. Ich erhielt eine positive Antwort, ich sollte mich nach einigen Wochen wieder melden. Ich hätte es nicht einmal im Traum gehofft, daß sie mich zur vereinbarten Zeit mit einem Rockefeller-Stipendium erwarten würden.
Dies läßt sich also als eine glückliche Wende bewerten, das war ein großartiges Ereignis in Ihrem Leben. Mit Ihrem Malerdiplom aus Budapest haben Sie nach der Revolution als Flüchtling eine sehr ernste Möglichkeit erhalten.
– Tatsächlich, so konnte ich mit dem Rockefeller-Stipendium bis 1961 leben und arbeiten.
Wie lange waren Sie insgesamt im Lager?
– Im Lager war ich nicht lange, vom Januar 1957 an vielleicht ein Jahr lang.
Wir durchblätterten einen Teil der in der Wiener Wohnung bewahrten Zeichnungen, darunter fanden sich welche, die Erlebnisse aus dem Lager festhalten. Spielende Kinder, verzweifelte, hoffnungslose Menschen. In anderen Zeichnungen sieht man Panzer, unverwechselbare Stimmungsbilder der Budapester Revolution. In diesen kommen wohl Erlebnisse aus der Zeit der Revolution zum Ausdruck.
– Ja, meine Budapester Erlebnisse. Denn ich hatte sehr viele Erlebnisse. Ich war alleinstehend, denn mein Sohn war bei meiner Tante, besuchte die Schule auf der Mártírok-Straße, er ist ein braver ungarischer kleiner Junge. Ich war vom ersten Augenblick an – durch Zufall – mitten in der Revolution.
Was haben Sie erlebt, gesehen? Wie waren Sie dabei: aktiv, oder als Zuschauer, als jemand, der von der Menge mitgerissen wurde?
– Im Oktober 1956 mußte ich ein Plakat machen. Genauer gesagt, das Plakat war schon fertig, ich mußte noch das Datum einfügen. Ich lieferte das Plakat beim Besteller ab und war auf dem Rückweg von dort. Ich kam an der Universität an. Das kamen vier junge Männer aus der Universität mit weißen Blättern in der Hand und begannen zu rufen: „Russen nach Hause!“ und ähnliche Dinge. Ich schloß mich ihnen sofort an. Aber zugleich kamen auch Frauen aus den Toren der Häuser, alte Frauen. Ich sah zwei oder drei, die sich auf offener Straße niederknieten und beteten. Dann sagten sie: „Jungs, geht und tut was!“
– Das war sicherlich am 23. Oktober.
– Ja, genau.
Und was ist mit dem vollendeten Plakat geworden?
– Ich habe es abgeliefert und schloß mich der Menge an. Wir zogen zum Großen Ring und von dort zur Margaretenbrücke, dann auf der Budaer Seite zum Standbild von Jozef Bem, [einer Symbolfigur der Revolution von 1848/49] und von dort über die Kossuth-Brücke zurück nach Pest, zum Parlament. Bei der Bem-Statue trug der Schauspieler Imre Sinkovits das Nationalgedicht vor, ich stand einige Meter entfernt von ihm.
Das war ein ganz großes Erlebnis, ich habe heftig geweint. Und wir skandierten fortwährend die Losungen: „Politische Häftlinge freilassen!“, „Russen nach Hause!“ und dergleichen. Wenn ich mich recht erinnere, wurden Häftlinge schon an diesem Tag freigelassen.
Wir zogen also zurück nach Pest, zum Parlament. Vor dem Parlament und zu beiden Seiten des Gebäudes war schon eine ganz große Menge versammelt. Ich kam ganz oben auf der Treppe zu stehen, und wir warteten.... Ich weiß nicht mehr, wer kam, was er sprach, wie die ganze Menge wieder in Bewegung kam. Ich kam von der Treppe herunter und ging mit ihnen. Ich wußte, daß wir in Richtung meiner Wohnung zogen, denn ich wohnte am Stadtwäldchen. Ich erlebte alles, das kann man gar nicht erzählen.
Dann sind wir bei der Stalinstatue angekommen. Ich weiß nicht mehr, ob die Statue schon am ersten Tag oder erst am nächsten gestürzt wurde. Aber ich war dabei, stand so nahe wie hier die Bäume an der anderen Seite der Straße.
Haben Sie dort daran gedacht, ist es Ihnen überhaupt eingefallen, zu zeichnen, das Stürzen der Stalinstatue an Ort und Stelle zu verewigen?
– Nein. In der Revolution ging es nicht darum. Ich fragte dort einen Mann, ob er meinte, daß diese Revolution so groß sein würde wie einst die von 1848. Er antwortete, diese Revolution sei bereits jetzt so groß wie jene war.
Das ist merkwürdig, daß es Ihnen gleich zu Beginn diese historische Parallele eingefallen war. Haben Sie Fotografen gesehen?
– Ja, es wurde fotografiert und gefilmt.
Haben Sie Plakate gesehen? Wurden Transparente mitgeführt? Wurden Flugblätter verteilt? Haben Sie derlei gesehen? Hat sich das visuelle Bild der Stadt geändert?
– Von alldem habe ich keine visuellen Spuren bemerkt, ich muß ehrlich zugeben.
Sie arbeiteten in jener Zeit als bildende Künstlerin in Budapest.
– Ja. Als bildende Künstlerin entwarf ich damals Plakate, und wir schrieben Buchstaben oder Datumangaben. Das war meine Arbeit, auch andere machten mit, die mit mir die Hochschule absolvierten. Dies sicherte ein geringes Einkommen, einen spärlichen Unterhalt.
Sie verließen nach der erlebten und niedergeschlagenen Revolution in der letzten Minute, im Januar 1957 Ungarn – und gelangten nach Österreich. Sie kamen in ein Lager und konnten das ausgelieferte Dasein der Flüchtlinge, ihre Sorgen und Qualen, ihren oft bitteren Alltag miterleben. Von diesem Gefühl des Ausgeliefertseins sind viele Ihrer Zeichnungen und Aquarelle aus jener Zeit geprägt.
– Ja. Menschliches, Ausgeliefertsein, Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit ist diesen Blättern anzumerken. Aber ich bin in so einer Atmposphäre, in einer Art Trauer ausgewachsen. Ich wurde 1921 geboren, davor war der Erste Weltkrieg, dessen melancholische Stimmung noch in uns weiterlebte, in den ungarischen Familien ganz vordergründig. Das blieb in mir stecken, ich trug es in mir herum, auch hier im Lager. Armut störte mich nicht, auch die Demütigung habe ich kaum bemerkt. Ich hatte nur eine Sehnsucht: Ich sehnte mich nach einem ehrlichen, freien Land, in dem gottesfürchtige, friedliche Menschen lebten. Ich betete darum, daß mir dies gewährt würde.
Darf ich Sie nach so vielen Jahrzehnten fragen, ob Ihre einstige Sehnsucht in Erfüllung ging, ob Sie Ihr Ziel erreicht haben?
– Nun, eine Zeitlang schien es so, als hätte sich vieles verwirklicht, man könnte es als Erfolg bezeichnen. Damals war ich noch nicht so hoffnungslos wie heutzutage. Jetzt ist es so, daß man die fertigen Arbeiten nur unter größten Schwierigkeiten ausstellen kann. Ich kann diese Schwierigkeiten heute kaum meistern.
Aber es läßt sich feststellen, daß Éva Nagy ihr ganzes Leben lang als bildende Künstlerin gearbeitet hat. Auf ihre alten Tage ist sie in die merkwürdige Lage geraten, daß sie in Wien halbwegs, in Ungarn kaum, in ihrer Heimat, in Siebenbürgen, überhaupt nicht bekannt ist. Sie wird nicht einmal unter den ins Ausland Gekommenen geführt. Obwohl sie aus Siebenbürgen kam, in Budapest und in Wien (das ist eine Ausnahme!) akademischen Abschluß absolviert hat. Nach wiederholter Teilnahme an Gruppenausstellungen ist sie am ehesten in Österreich als Künstlerin bekannt.
– Ja, lebte ich doch die meiste Zeit meines Lebens in Wien, seit 1957 ununterbrochen. Ich bin freilich auch in Wien nicht besonders bekannt.
Ihre Kunststudien haben Sie noch in Ihrer Heimat, in Siebenbürgen begonnen. Wo geschah das und wer waren Ihre ersten Meister?
– Ich studierte bei István Tóth und Sándor Szopós in Klausenburg. Sie hielten ihre Kurse 1938/39 im Unitarierkolleg.
Nach welchen Methoden unterrichteten sie?
– Köpfe und bekleidete Modelle standen ständig zur Verfügung. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals Akte gezeichnet hätten. Köpfe zeichneten wir in Kohle, nach Gipsmodellen. Ich hatte eine sehr gute Zeichnung, den Sterbenden Alexander den Großen, ausgeführt nach einem Gips. Diese Zeichnung hatte ich sehr gerne, auch mein Bruder hing daran. Sie wurde in der Familie lange Zeit aufgehoben, aber heute weiß ich nicht mehr, wohin sie geraten ist.
Dort empfingen wir jedenfalls sehr unterschiedliche Eindrücke. An erster Stelle stand der Einfluß der griechischen Skulptur. Die Lehrer hatten ihr großes Wissen, korrigierten gewissenhaft, und wir arbeiteten mit großer Begeisterung.
Über diese Anregungen hinaus übte vielleicht noch der eine oder andere siebenbürgische, Klausenburger Künstler einen Einfluß auf Sie aus?
– Imre Nagy ist gewiß hervorzuheben, auch Gy. Szabó arbeitete damals schon auf hohem Niveau. Und freilich Sándor Szopós, der in jenen Jahren an einem großen Werk arbeitete, an einem Historienbild aus der siebenbürgischen Geschichte (Mádéfalvi veszedelem – Das Unheil von Mádéfalva). István Tóth war ein Naturalist, er sagte immer: „Wenn ich einen Baum male, dann kann ihn jeder sofort erkennen. Bäume, Blumen, alles muß charaktervoll erfaßt werden“. Das hat mir sehrt viel bedeutet.
Das war wohl eine Lehre fürs Leben, denn man finden unter Ihren Werken bedeutende Ergebnisse des unmittelbaren Studiums verschiedener Motive und des vertieften Naturstudiums.Wie lange besuchten Sie die Szopós–Tóthsche Zeichenschule?
– Zwei Studienjahre, zwischen 1938 und 1940.
Und was geschah danach?
– Dann kam 1940 der Wiener Schiedsspruch. Es war fürchterlich. Die armen Ungarn warteten sehr darauf, welche Entscheidung Hitler treffen würde. Es geschah gerade nach dem Mittagessen, im Radio wurde angesagt, daß der Schiedsspurch gefallen ist. Die Grenzlinie wurde eben gezogen. Wir warteten gespannt darauf, ob Enyed (Aiud) an Ungarn fallen würde. Aber nein, nur Klausenburg. Wir fanden uns in Südsiebenbürgen, also in Rumänien: Enyed, und auch Torda.
Wie und wann sind Sie dann nach Ungarn gekommen?
– Zu jener Zeit, vor dem Wiener Schiedsspruch war ich mit einem Lehrer aus dem Kolleg verlobt. Er ging nach Klausenburg, wir wollten uns bald wiedersehen und heiraten. Nach der Grenzsperre schickte er jemanden zu mir, der mich aus Enyed nach Nordsiebenbürgen, nach Klausenburg führte. Dort haben wir geheiratet. Es kam der Kreig, im August 1944 wurde uns ein Sohn geboren.
Am selben Tag wurde Bánffyhunyad und seine Umgebung geräumt und das betraf auch uns, denn mein Mann war Kompaniekommandant bei den Grenzjägern, im Rang eines Hauptmanns.
Dieser Rückzug aus Siebenbürgen, diese Flucht ist unvergeßlich. Bauernwagen, Pferdekutschen, Ochsenkarren, in fürchterlichem Durcheinander, Tumult, Kopflosigkeit, Hoffnung und Verzweiflung. Ich hatte nur das Glück, daß meine Mutter wegen meiner bevorstehenden Niederkunft rechtzeitig das Visum erworben hatte, um bei mir zu sein. So war meine Mutter mit mir, die ganze Zeit während er Flucht.
Sie mußten also, weil Sie Ungarin waren,während des Krieges aus Siebenbürgen weg. Wohin wollten Sie hin?
– Wir hatten keine Wahl; bei Miskolc waren heftige Kämpfe. Der Zug fuhr, wohin es eben möglich war. Wir fuhren bis hinauf in die Slowakei, und von der Gegend der österreichischen Grenze wurde der Zug nach Wien gelenkt. Als Familienangehörige eines Grenzjägeroffiziers wurden wir nach Muraszombat (Murska sobota) eingewiesen. Dort erlebten wir Ostern – und die Russen. Dort lebten Wenden, und die Ungarn wurden alle vertrieben. Auch wir als Flüchtlinge wurden mit einem kleinen Sack zu Fuß auf den Weg geschickt. Ich mit meinem Kleinkind auf dem Arm. Wir gingen zu Fuß bis zur ungarischen Grenze.
Wenn ich es richtig gezählt habe, war das innerhalb von fünf Jahren Ihre dritte Flucht.
– Das war ein fürchterlicher Weg. Meine Mutter war damals fast so alt wie ich jetzt. Ihr fiel das sehr-sehr schwer. Verdächtige bewaffnete Männer haben uns begleitet, bis wir endlich die ungarische Grenze erreichten. Schließlich kamen wir nach Szombathely, und von dort dann nach Budapest. Allein konnten wir das gar nicht schaffen. Wir schrieben an Verwandte in Budapest, zwei Cousinen holten uns ab und halfen uns nach Budapest.
Und was folgte danach?
– Ich kehrte noch nach Siebenbürgen heim, weil ich meinte, mit meinem kleinen Kind allein in der Hauptstadt nichts anfangen zu können. Das war noch ein tödlicher Weg. Meine Mutter hatte ihren Paß, so konnte sie damit heimkehren. Ich begleitete sie bis an die Grenze und blieb dann mit meinem Söhnchen dort stecken. Wir wurden nicht durchgelassen. Ich wußte, daß in einem nahe gelegenen Dorf ein Freund von meinem Mann, ebenfalls ein Grenzjäger, mit seiner Familie lebte. Ich schrieb an ihn und ging zu ihm. Sie haben mir zugeredet, dort zu blieben, aber ich wollte unbedingt nach Hause. Sie begleiteten mich mit einer Kutsche an die Bahnstation. Ich sagte zu ihnen, sie sollten mich nun allein lassen, ich werde meine Angelegenheit schon regeln. Ich ging hinein zum Stationschef, in sein Büro und sagte ihm, ich bin ein Flüchtling mit einem kleinen Kind, ganz allein hier in Ungarn. In Enyed steht hingegen unser Haus, ich muß unbedingt mit meinem Kind nach Hause. Schon gut, meinte er, ich soll nur warten, er würde mir schon sagen, in welchen Zug wir einsteigen können. Er half mir tatsächlich in einen Zug, so fuhren wir heim nach Enyed.
Nach wieviel Zeit und wie kehrten Sie später nach Ungarn zurück?
– Ich konnte später mit dem Offiziersburschen meines Mannes reden. Er erzählte mir, wie es zuging, als Bánffyhunyad geräumt wurde. Er schlug meinem Mann vor, die Sterne abzuschneiden und sich bei ihnen, solange die schlechten Zeiten dauerten, zu verstecken. Mein Mann antwortete aber, er bleibe an seiner Stelle, im Kommandantenbüro. Er wurde noch am selben Tag von den Russen gefangengenommen und verschleppt.
Bis zum sechsten Lebensjahr meines Sohnes blieben wir in Enyed, in der Wohnung meiner Eltern. Dort erzogen wir das Kind.
Als mein Mann aus der Kriegsgefangenschaft nach Ungarn heimkehrte, schickte er uns die Papiere für die Familienzusammenführung, so kamen wir 1950 nach Ungarn, nach Komárom. Mein Mann arbeitete dort als Lehrer. Er freute sich sehr über das Kind, hatte aber bereits seine eigene Gesellschaft. Meine Tante kam nach mir und nahm mich mit nach Budapest. Ich fragte die Verwandtschaft, was ich tun sollte: arbeiten gehen, oder könnte ich vielleicht an die Kunsthochschule gehen. Sie wußten von meinem Interesse für die Kunst und meinten, ich sollte versuchen, an die Hochschule zu kommen.
Wer hat Sie als Schülerin angenommen? Wer waren Ihre Studienkameraden?
– Meine Studienkameraden? Ich kann mich nicht mehr erinnern, die Namen habe ich vergessen. Ein einziger kommt mir in den Sinn: Edit Galambos.
Zunächst war ich bei Prof. László Bencze, zwei Jahre lang. Dann kam ich in den „Maulbeergarten“, zu Bertalan Pór. Ich habe die Hochschule absolviert, ich kam mit meinem Diplom nach Österreich herüber.
Es gibt unter Ihren Zeichnungen einige, die Erlebnisse aus den Tagen der Budapester Revolution verewigen. Zum Beispiel ein Mädchen in der Toreinfahrt, und eine Szene mit sich raufenden Männern. Können Sie sich an diese Szenen erinnern?
– Wie ich aus meiner Wohnung in der Dembinszky Straße trat, sah ich solche Szenen. Das Mädchen brachte sich in der Toreinfahrt in Sicherheit, neben ihr marschierten Soldaten und allerhand Leute. Manche waren schon gefallen. Wenn man auf der Straße unterwegs war, mußte man immer wieder zum Tor einspringen, denn die Kugeln pfeiften nur so. Als hätte es nicht von oben geregnet, sondern von der Seite gehagelt.
Die Budapester Erinnerungen kamen dann im Lager herauf: Die eine Zeichnung zeigt einen Panzer, eine andere einen Budapester Jungen mit einem Molotow-Cocktail, eine dritte eine Waffenstreckung. Parallel zu den Erinnerungsbildern der Revolution begannen die Malerin auch ihr damaliges Milieu, die Flüchtlinge, die ausgelieferten Lagerbewohner, Kinder zu zeichnen. Eine Welt, die sich inzwischen in der Tiefe ihrer Seele gefestigt hat. – War das die letzte Station Ihrer persönlichen Flucht?
– Ich habe eigentlich das Gefühl, daß ich ständig auf der Flucht bin.

Korunk, 2004/12, 77–92

Karl Hermann: Retrospektive über 30 Jahre der Malerin Éva Nagy in der Karlsruher Galerie Emilia Suciu; Beitrag im Katalog "Éva Nagy - Bilder. 1959-1988". Karlsruhe 1988

Die Kurzbiographie der Künstlerin Éva Nagy lässt ihr bewegtes Leben und die unbeirrte Entwicklung ihres eigenständigen Werkes im Wechsel von Anerkennung, Krankheit und Not nur ahnen.

Wenn man mit der Absicht, etwas über die Bilder zu schreiben, durch die Ausstellung geht, ist man zunächst verleitet, über das, was sie abbilden, Figuren, Blumen, Landschaften, auszusagen. Das wäre in einer Zeit der Themenausstellungen, in der Künstler wegen der Aussagen gelobt werden, gar nicht abwegig. So weit geht diese Tendenz, dass Künstler und Publikum recht glücklich sind, sich so unintellektuell verständigen zu können. Es gibt kaum eine Ausstellung, die sich nicht durch "Frieden", "Freiheit" oder "Frau" rechtfertigt.

Die Geschlossenheit dieser Ausstellung wird nicht durch eine Aussage zu Lebensproblemen, sondern durch die Qualität der Bilder erzeugt. Es handelt sich hier nicht um ein Thema, es handelt sich um Malerei. Um über eine Malerei zu reflektieren, ist es nötig, sie einzuordnen in das große Koordinationssystem der modernen Kunst. Dass sich die Künstlerin nicht gern in einen Schubkasten schieben lässt, dass sie betrachtet sein will, "wie sie ist", muss man verstehen. Eine wertende Betrachtung ist aber nur außerhalb ihrer Person und innerhalb der Kunstgeschichte möglich.

Was immer wieder über diese Malerei geschrieben wurde: dass sie expressionistisch, expressiv sei, möchte man nach dem ersten Durchgang bestätigen. Jedoch als expressionistisch kann sie aus kunsthistorischem Grunde, aber auch weil dieses typische Stilmerkmal, die "splissige Malweise", fehlt, nicht bezeichnet werden. Auch die expressiven Gesten der spontanen Malerei der "Neuen Wilden" gibt es bei ihr nicht.

Die Zuordnung zu einer expressiven Malerei ist demnach so nicht möglich. Die Künstlerin sagt, sie gehe beim Malen von einem Erlebnis aus. Aber das muss bei einer so wenig abbildenden Malerei vor allem ein inneres Erlebnis sein, angeregt von einem äußeren. Das Innere erlebt sie in einem Raume der künstlerischen Erfahrung und Bildung. Danach wird ihre Arbeitsweise beschreibbar: Die Bilder sind nicht in Skizzen vorbereitet, sondern direkt auf die Fläche gemalt. Sie erzeugt in kurzer Zeit ein Gefüge von Flächenformen. Dann erlebt sie eigentlich erst, was sich bzw. was sie daraus entwickelt. Sie reagiert, immer ein anfangs gestelltes Ziel vor Augen, auf das schon gemalte. Sie übermalt aber nicht ganze Bildpartien, denn damit würde sie ihr Ziel, ihre Vorstellung verwandeln. Nur einzelne Felder werden geändert. Dadurch bleibt die anfangs angelegte Komposition bestehen. Sie wird nur durchgearbeitet und verdeutlicht.

Auf die einzelnen Künstlerpersönlichkeiten, die sich aus dem deutschen Raum der Ausdrucksmalerei gelöst haben, wie Johannes Itten und Oskar Schlemmer, ist der vage, aber durchaus brauchbare Begriff abstrakte Kunst angewendet worden. Willi Baumeister beschrieb diese Haltung in dem Buch "Das Unbekannte in der Kunst" so: "Auch die Künstler der reinen Kunst sind in ihrem Kern... nicht ohne Tendenz. Sie geben aber ihren Werken keine illustrativen Inhalte, ihre Anlage ist viel zu breit dazu. Ihre Werke sind unleugbar gegen alles Überwundene auf allen Gebieten, gegen jede Reaktion gerichtet. Damit enthalten sie eine Stellungnahme und sind in diesem Sinne betrachtet. Jede deutliche oder gar programmhafte Tendenz im Kunstwerk ist zeitgebunden. Der eigentliche künstlerische Gehalt aber ist beständig durch seine unbestechliche Verantwortung und durch die erfundene und geprägte Form". In dieser "unbestechlichen Verantwortung" erzeugt die Künstlerin mit jedem Bild eine Ordnung von Bildelementen nach den Gesetzen der Bildfläche.

Die abstrakte Kunst, die somit in ihrem Wesen Ordnung ist, wurde schon 1932 als zerstörerisch und chaotisch angefeindet. Sie wurde von Hitler als jüdisch-bolschewistisch und von Stalin als kapitalistisch-dekadent verboten. In den Ostblockländern, also auch in Ungarn, von wo Éva Nagy 1956 floh, haben Studenten, die abstrakt malten, nicht nur den Ausschluss von der Akademie riskiert. In unserer Zeit dagegen wird das spontane Malen als das eigentlich Künstlerische betrachtet.

Man möchte sagen, dass Éva Nagy von der Geschichte eingeholt worden ist. Denn 1956 floh sie aus einem Machtbereich, in dem der sozialistische Realismus die einzig erlaubte Kunstrichtung war.

Der Künstler hatte darzustellen, wie die Zukunft im Sozialismus auszusehen habe. Jetzt im Westen wird allzusehr ein Werk danach beurteilt, wie es helfen könnte, den Frieden herzustellen oder die Atombombe und den Hunger aus der Welt zu schaffen.

Wie aber lässt sich das Werk der Éva Nagy, das sich von den Themen der Zeit zurückzieht, in dieser Zeit betrachten? Von dem Surrealismus der Wiener Schule, wie ihn ihr Studienkollege und späterer Förderer Ernst Fuchs nach 1950 mitprägte, blieb ihr Werk unberührt. Der Monumentalismus der Formate bei minimalen Bildproblemen, wie er heute Mode ist, kommt bei ihr nicht an, und doch lassen sich an diesem Werk großer Geschlossenheit Wandlungen in Parallele zu Kunst- und zeitgeschichtlichen Abläufen entdecken.

Die Bilder der 60er Jahre führen den Betrachter in die lyrische Abstraktion. Eine angedeutete Räumlichkeit, die Annahme, es handle sich um ein Stilleben, ein Interieur, zieht als etwas Bekanntes das Auge in das Bild hinein. Bei Betrachtung der einzelnen Bildfelder werden die Fluchtlinien zu Diagonalen. Die Räumlichkeit ist wieder weggenommen, und der Kenner kommt zu dem Genuss des Spieles auf "der heiligen Fläche". Dieser Vorgang lässt sich auf jedem einzelnen Bild immer wieder anders ablesen. In jedem einzelnen Feld eines Bildes ist der gleiche Vorgang der als lyrisch empfundenen Wandlung vom Räumlichen zum Flächigen, vom Darstellenden zum Abstrakten erlebbar.

In dem Bildern der letzten Jahre ist die Suche nach der deutlich ablesbaren Form, wie sie in unserer Zeit liegt, wirksam. Auch hier werden Raum und Fläche, Figurendarstellung und abstrakte Gestaltung gegeneinander zugespielt. Nur im Vergleich zur früheren Aufteilung der Fläche in einzelne, aufeinander bezogene Felder wirkt diese Malerei monumental. Eine Übersteigerung des Formates oder eines Bildausschnittes widerspräche dem Charakter dieser Künstlerin. Diese Übersteigerung widerspricht wohl letztenendes aller Kunst.

Die eigentlich überflüssige, aber doch immer wieder gestellte Frage, was denn abstrakte Kunst, also hier die Malerei Éva Nagy bewirke, könnte am Beispiel so beantwortet werden: Indem sie unsere Vorstellungen von Raum und Figur in bildnerische Harmonie verwandelt, löst sie uns aus dem Chaos des Alltäglichen und führt uns in die Harmonie der Fläche. Damit werden uns zwar keine Anweisungen zum Handeln gegeben, aber eine innere Ordnung, aus der heraus wir uns orientieren können.

Karl Herrman


Mag. Elisabeth Voggeneder: "Das ruhende Labyrinth - Das Werk Éva Nagys:
Vom Realismus zur Abstraktion", Text im Katalog "Éva Nagy - 1921-2003", Budapest 2006


„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sie macht sichtbar.“ (Paul Klee)

Ohne vom Menschen bewohnt zu werden , wäre die Welt nichts als ein Haufen beziehungsloser Dinge.“ (Hanna Arendt)

Das Lebenswerk Éva Nagys entfaltet sich im Spannungsfeld von Realismus und Abstraktion. Neben Porträts, Menschenbildern, Stillleben und Landschaften finden sich in ihrem Oeuvre auch abstrahierte Figurationen, ondulierte Lineaturen und geometrisierende Farbkompositionen. Éva Nagys Schaffen erscheint ebenso heterogen wie komplex.

Die Heterogenität und Komplexität ihres Werkes spiegelt ihre spezifische künstlerische Entwicklung, die sich aus einem bewegten und dramatischen Schicksal begründet. Eine über 17 Jahre andauernde Flucht führt sie von ihrem Geburtsort in Siebenbürgen über Budapest nach Wien, begleitet von politischen und persönlichen Wirrnissen. So ist ihre malerische Auffassung zunächst im Naturalismus verwurzelt und öffnet sich – gleichsam entlang der Stationen ihrer Flucht – zusehends dem Abstrakten. Hier zeigt sich der labyrinthische Weg einer österreichisch-ungarischen Malerin.

Ihr Frühwerk wird von einer Beobachtung des Gesehenen bestimmt. Einen Schwerpunkt bildet das Porträt, bevorzugt widmet sie sich dem Selbstporträt. Aus ihren ersten Schaffensjahren sind eine Vielzahl von Gesichts- und Figurendarstellungen erhalten, wie beispielsweise das Selbstporträt aus dem Jahr 1941, das von einer bemerkenswerten Begabung zeugt. Die Auseinandersetzung mit dem Menschen – als Einzelbild und Gruppenporträt – bildet auch in den folgenden Jahren ein wichtiges Motiv. Dabei bleibt eine naturalistische Herangehensweise bestehen, gleichzeitig wird die Figur jedoch zusehends abstrahiert. Einerseits wird das Figurative nun in einer farblich- modulierten, kubisch gegliederten Flächenanordnung eingeschrieben, anderseits mittels grafischer Zerlegung in ein bewegtes Netz aus Linien eingebettet. Gleich einem Geflecht bilden Figur, Farbfelder und Linien nun ein zeichnerisches und malerisches Labyrinth.

Auch bei den abstrakten Arbeiten dominiert eine Grundstruktur aus bewegten oder geometrischen Feldern den Bildaufbau. Schattierte Segmente oder zarte Linienformationen verflechten sich zu einer kontinuierlichen Musterung von opaker Konsistenz. Zu den schönsten Beispielen dieser Werkreihe zählen die farblich modulierten, in Kreide und Pastell ausgeführten Blätter aus den späten Sechzigerjahren, sowie die feinen Federzeichnungen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren.

An diesem Punkt der Werkgenese erschließt sich die Homogenität hinter der Vielfalt der formalen Ausdrucksformen und führt zu Éva Nagys stringenter und grundlegender Verfahrensweise, die von den ersten Zeichnungen bis zu ihren letzten Arbeiten präsent ist. Die Beobachtung des Menschen als äußeres Erscheinungsbild modifiziert sich zu einer Wiedergabe des Zusammenspiels von Mensch und Umgebung als untrennbare Bedingung des Daseins. Nicht das Sichtbare im Sinne Paul Klees ist der tatsächliche Gegenstand der Darstellung, sondern das Dahinterliegende als Grund und Begründung des Äußeren, nicht die Welt für sich, sondern die Beziehung von Mensch und Welt im Sinne Hanna Arendts ist konstitutiv. Dieses Themenfeld erweist sich als eigentlicher Anlass für Éva Nagys Werk. Ihre Bildwelt als Weltsicht beschreibt ein ruhendes Labyrinth, in dessen verschlungenen Formen der Mensch im Mittelpunkt steht, auch wenn die Figur aus den Bildern verschwunden ist.

Mag. Elisabeth Voggeneder